Mittwoch, 19. Oktober 2005

TAG 1

„Lass Dich nicht zu sehr verbiegen! Nur da, wo´s krumm ist.“ Feste, lange Umarmung, Tränen in den Augen alle beide.
Und so setze ich mich ins Auto und fahre nach W. Ein halbes Jahr habe ich hierauf gewartet, Ärzte, BfA und Krankenkasse davon überzeugt, dass ich professionelle Hilfe brauche und jetzt ist es soweit und es schnürt mir das Herz zusammen. Ich war noch nie irgendwo sechs Wochen lang außer in meinen Zuhausen. Angst, vor allem Angst macht sich breit und Heimweh, bevor ich überhaupt weg bin. Nach meinen Lieben, die sich in den vergangenen Monaten so für mich eingesetzt haben. Jürgen, Frank und vor allem Kai. Im Auto eine von ihm gebrannte CD, die mir alle paar Kilometer lang die Tränen in die Augen treibt.
Nach einer dreieinhalbstündigen Fahrt (für 170 km) bin ich da. Die nette Rezeptionistin begrüßt mich. Meine Co-Therapeutin stellt sich mir vor und zeigt mir mein Zimmer und (ganz wichtig) den Raucherbereich. Erstmal rauchen und dann „Queer eye for the patient´s quarters“. Ich stelle meine Bücher auf, platziere das Doris Day-Autogramm mit persönlicher Widmung („To V., with love and thanks for caring.“), versprühe „Diyptyque Gardenia“ und lege meine Kaninchenfelldecke übers schmale Jugendzimmerbett. Ich schließe den Mac an und das Geräusch beim Booten feels like home. But not enough.
Ich bin in der Klinik, ich bin auf dem eventuellen Weg der Besserung, doch quasi homöopathisch, gehe ich die Angst mit der Angst an. Der Angst, dass mein Pate (so heißen die Buddies hier) mich nicht mag, oder ich ihn nicht. Angst vorm Speisesaal, vor der Ärztin, der Therapeutin. Vor dem Plan, der mir bevorsteht, vor den Aufgaben, die mir gestellt werden. Aber ich habe mir diesen Weg selbst ausgesucht. So. und gleich klopft es und ich stehe jemandem gegenüber, der vor ein paar Wochen vermutlich in derselben Situation war. Denn jetzt ist Mittagessen mit dem Paten!

Der Pate heißt S, Typ hart arbeitender Familienvater, und kommt aus Gämmnids. Er zeigt mir die Klinik und erklärt die Abläufe. Nach dem Essen habe ich Termin mit meiner Co-Theraputin und meiner medizinischen Betreuerin. Erste arg unangenehme Gefühle betreffs meines bisherigen Lebenswandels. Auf die befürchtete Drogenfrage antworte ich wahrheitsgemäß (und frage mich, ob ich vielleicht auch wegen meines sporadischen und mittlerweile ein halbes Jahr zurückliegenden Koks- und E-Missbrauchs hier bin.) Nach den Gesprächen ist Zeit, mit den anderen Rauchern zu bonden und ein paar Fragebögen (wahrheitsgemäß) auszufüllen, dann umziehen und zum Newcomer-Sport. Albträume werden wach als ich die Sporthalle betrete. Die Bundesjugendspiele und ich – eine Hassliebe ohne jegliche Erotik. Obwohl es erst in fünf Minuten losgeht, sitzen schon ca 15 Leute auf Turnbänken und schauen mich erwartungsvoll an. Ich fühle mich ganz entschieden beschissen. Was habe ich bloß getan, dass ich glaubte, dies wird wie „Sommersturm“? Ich weiß nicht, wie oft ich heute tief durchatmen musste, ebenso wenig wie häufig das nichts genutzt hat. Ich kann mich selbst nicht leiden, dafür dass ich so wehleidig bin, aber ich habe solches Heimweh nach meinen Lieben, da hilft auch kein Gardenienspray oder Kaninchenfell. Ich heule nachher, wenn ich allein auf dem Zimmer bin. Und vorher noch mal kurz im Garten, aber es hat, glaub ich, niemand gesehen. Und ich spüre, es wird nicht das letzte Mal in diesen 6 Wochen sein.
Der Sport ist soft, es geht mehr ums Kennenlernen. Ballwerfen mit Namensnennung. Es funktioniert tatsächlich! Ich habe mir zwei Namen gemerkt: Frau M. und Frau W. Und dann, beim Reifenzwirbeln werde ich der erste Zwirbelmeister des Tages – mein Reifen schlägt als letzter auf.
In manchen Momenten spüre ich die Solidarität unter uns Newcomern. Überhaupt grüßen wir uns alle auf den Gängen, sitzen am Gruppentisch und erzählen uns wo wir herkommen, wie die Anreise war. Aber weshalb wir hier sind – darüber wird noch nicht geredet. Einen attraktiven Mann habe ich auch schon gesehen. Trendige Kurzhaarfrisur, sehr netter Eindruck. Aber ich bin nicht hier wegen der attraktiven Patienten. Und trotzdem – gut zu wissen.

Überall Menschen, noch nie hätte ich meine eigene Wohnung so sehr gebraucht wie jetzt. Die Menschen sind durchweg freundlich, aber wie sollen sie mir meine Freunde ersetzen, oder meine Familie. Ich heule auch, als ich mit meiner Mutter telefoniere. Sie auch. Und wieder schäme ich mich so, sie damit rein zu ziehen.
Wie konnte ich je glauben, mir das zumuten zu müssen? Wie soll ich das durchstehen? Ich will mit niemandem bonden. Ich will keinen „Paten“. Vielleicht sollte ich einfach akzeptieren, dass mein Leben nun mal beschissen ist, zur Zeit. Vielleicht wird alles von selbst besser? Vielleicht brauchte ich nur eine Illustration dafür, dass ich am Ende bin. Die habe ich jetzt. Darf ich bitter wieder nach Hause??

Mit Ipod in den Garten. Der Shuffle hat folgendes für mich:

Running up that hill
Polaroid Cocain
Theme from Valley of the Dolls
Grauer Regen

Und das schöne Lied von Ich + Ich in dem es geht: „Es tut mir weh, Dich so zu sehn, Du stehst am äußersten Rand...“

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42 DAYS

Sozialphobie ist die dritthäufigste psychische Störung nach Depression und Alkoholismus. Unser Protagonist leidet seit vielen Jahren an dieser Erkrankung. Nachdem ihn die Phobie beruflich und in viererlei Hinsicht auch privat ins Aus katapultiert hat, beschließt er, sich in Behandlung zu begeben. Und weil er es sich nicht leicht machen will und an radikale Methoden glaubt, begibt er sich für eine sechswöchige REHA-Maßnahme in eine Fachklinik für psychosomatische Erkrankungen. An eines hat er jedoch nicht gedacht: dass die Kliniksituation an sich, die ständige Konfrontation mit Patienten und Pflegepersonal, zunächst einmal Futter für seine Ängste sein wird. Anstatt sich in der Klinik aufgehoben zu fühlen, schlägt er dort zunächst ziemlich hart auf.

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