Montag, 31. Oktober 2005

TAG 9

Habe gestern meine Freunde informiert, dass ich während meiner Zeit auf dem Hügel keinen Besuch möchte. Beim Telefonieren bemerkt, dass ich sie nicht um ihr Leben in Freiheit beneide. Und jetzt vermisse ich sie, was das Zeug hält. Jürgen erzählt, meine Wohnung hat die attraktiven Spanier gut überstanden und heute zieht schon der neue Untermieter ein. 5 Wochen liegen noch vor mir, in denen ich meine Freunde nicht von hier abreisen sehen möchte. Das nicht-abreisen-sehen ist mir wichtiger als das sie-sehen. Auch ganz schön bescheuert, oder? Was würde meine Therapeutin sagen?
„Vermeidung, Herr L.“

Die Klientel im Speisesaal ist wie ausgetauscht. Alte Gesichter sind fort, neue gekommen. Die alten erkennt man nicht zuletzt an ihrer satten Sonnenbräune. Die neuen senken den Blick und grüßen nicht.

Ich war mit F. auf dem See und wir blicken beide in eine veränderte Zukunft, von der wir nicht wissen, wie sie aussehen wird. Wir haben Vorsätze. Wir wollen aus Genuss trinken und mindestens drei Abende in der Woche clean bleiben. Epikuräisch. Ich will meinen alten Lebensstil nicht abstreifen wie eine Wurstpelle. Es gibt einiges, was ich gerne verabschiede, aber wenn ich mich häute und häute und häute, stehe ich irgendwann als Skelett da. Und bis dahin sollten noch ein paar Jahrzehnte Leben lebbar sein.
Meine Laune war auch schon besser.

Sind ja nur noch 5 Wochen. Ha ha.

Zu allem Überfluss bekomme ich einen Anruf von D. Die Psychologie-Skeptikerin möchte wissen ob es mir besser geht.
„Ja – es geht besser.“
„Und hast Du noch diese Schweißausbrüche?“
„Ja. Den ganzen Tag.“
„Na dann kann´s ja so toll nicht sein.“
Ich überlege, ob ich mein Telefon wieder abmelde.

Vielleicht bin ich auch nur so übellaunig, weil heute zwei Veranstaltungen ausgefallen sind und ich mittlerweile ein Psychoseminar-Junkie bin. Außerdem bin ich tendentiell horny und im Anstalts-Internet-PC ist die Gayromeo-Seite aus Jugendschutzgründen gesperrt. Ich brauch ein Internet-Café. Aber ob hier auf dem Land an schwulen Sex zu kommen ist - ich zweifele daran.

Draußen ist es dunkel, liege auf der mäßig bequemen Draht-Liege, ich hab den Kopfhörer auf, damit ich mit niemandem reden muss. Schaue in den Himmel und höre Echolot, Wir sind Helden. Denke an Berlin, Flughafensee, Sommer 1998. Sehe meinen damals dünnen, weißen Körper in schwarzem klaren Wasser, gespiegelt am Himmel. Der Abendstern leuchtet. Erinnere eine Umarmung im Wasser, wir zwei, ganz allein. Erinnere seinen schönen Schwanz, sein Lachen, die klatschnassen halblangen Haare. Darf ich das behalten – ich hab´s gefunden. Matthias M.-Flashback, warum gerade jetzt? Weil irgendein Fragebogen irgendeine gescheiterte Beziehung nachfragte und es ist wohl keine kläglicher und schlimmer gescheitert als die mit ihm. Vielleicht auch ein Zeichen für eine große Liebe? Er hat sich mir entwöhnt, weil im gemeinsamen Marocco-Urlaub alle meine Ängste mich lähmten und ich ihm, so unselbständig, unlieb wurde.
„Sie sind dumm!“
„Warum?“
„Weil Sie erst jetzt zu uns kommen.“
Wie wahr.
Macht Dich das wütend genug?

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Sozialphobie ist die dritthäufigste psychische Störung nach Depression und Alkoholismus. Unser Protagonist leidet seit vielen Jahren an dieser Erkrankung. Nachdem ihn die Phobie beruflich und in viererlei Hinsicht auch privat ins Aus katapultiert hat, beschließt er, sich in Behandlung zu begeben. Und weil er es sich nicht leicht machen will und an radikale Methoden glaubt, begibt er sich für eine sechswöchige REHA-Maßnahme in eine Fachklinik für psychosomatische Erkrankungen. An eines hat er jedoch nicht gedacht: dass die Kliniksituation an sich, die ständige Konfrontation mit Patienten und Pflegepersonal, zunächst einmal Futter für seine Ängste sein wird. Anstatt sich in der Klinik aufgehoben zu fühlen, schlägt er dort zunächst ziemlich hart auf.

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