Donnerstag, 3. November 2005

TAG 12

Ich könnte nicht sagen, dass ich es aktiv gehofft hätte, aber irgend etwas in mir hat sicherlich nicht damit gerechnet, es nie für möglich gehalten, dass ich noch ein einziges Mal in meinen Leben das Stück „Live is live“ der Band „Opus“ von vorne bis hinten würde hören, geschweige denn, meine Arme und Schultern dazu rhythmisch bewegen zu müssen. Heute so geschehen bei der Schulter-Nacken-Gymnastik. Aber das ist das geringere Übel. Meine schlechte Laune pubertiert und verwandelt sich in Kaltschnäuzigkeit. Ich formuliere zunehmend ehrlich. Unverfroren. Sage, dass ich das dumme Gelaber in den Pausen (und teilweise in den Gruppentherapien und Seminaren) nicht mehr ertragen kann. Prollhausen deluxe und GlamourDick mittendrin. Ich werde selbst zum Proll, zum Mobber, zum Täter. Denke immer häufiger „Leck mich am Arsch“ ohne jede sexuelle Konnotation. (Und: JA! Sex fehlt mir.)
Anstelle von Alkohol nehme ich Zucker in Form von Hanutas zu mir. Doch liegt meine üble Laune nur zum Teil am Blutzucker-Abrutschen, mehr an dem Hass, den ich auf meine Kinderzeit-Mobber entdeckt habe und nun hege und pflege und auf meine Mitpatienten projiziere. I don´t suffer fools from the hill gladly. They get on my nerves and I don´t let them stay there. Meine Haltung ist arrogant und elitär. Ich nehme mich und meine Bedürfnisse wichtig. Eines dieser Bedürfnisse ist Privatsphäre. Die habe ich nur auf dem Zimmer. Mittlerweile rauche ich heimlich abends auf dem Balkon, weil bei mir Nikotinzufuhr nicht zwingend mit dem Austausch von Platitüden einhergeht. Ich will mich nicht zutexten lassen, sondern von den 14 Stunden, die ich hier weitestgehend im Wachzustand zubringe, zumindest die letzten beiden in splendid isolation verbringen: ich, das Telefon, meine Cola Light Lemon und eine Marlboro. (Cola Light Lemon immer noch ausverkauft...)

Habe es mir mit F. verscherzt, weil ich M. ebenfalls gefragt habe, ob sie mit an die Feisneck kommt. Nachdem F. sich vor ein paar Tagen darüber lustig gemacht hatte, dass unsere Zweier-Aktivitäten Neid und Eifersucht auslösen, ist sie jetzt selbst eifersüchtig geworden. Schade.
Sie hat sich am Badestrand schlafend gestellt und so etwas sehr Schönes verpasst. Beinahe hätte ich jemanden mit einem nicht-türkisen Badelaken (also einen Nicht-Insassen) gefragt, ob er dasselbe sieht wie ich, denn ich hatte Gelegenheit, an meinem Verstand zu zweifeln: Ein Klingeling machte mich aufmerksam auf einen Wanderer mit kreuzförmigem, blütengeschmückten Wanderstab, der eine Kette mit Holzscheibenanhänger um den Hals trug. Ihm folgten ungefähr zwei Dutzend Wanderer, welche der gleiche Schmuck zierte. Sie näherten sich vom Waldweg und marschierten über den Strand zum Waldrand empor, lächelten freundlich, entledigten sich ihrer Kleider und gingen kollektiv baden. Es scheinen Westler gewesen zu sein, a) wegen des christlichen Wanderstabes, b) weil sie Badezeug trugen (Ossis baden nackt). Das war auch ganz gut so, denn die Jüngsten Wanderer mochten so um die Mitte 50 gewesen sein.
Nachher hat M. es sich mit mir verscherzt, weil sie mich beim Abendessen vor Publikum auf ein öffentliches Erröten ansprach (dies stand nicht im Zusammenhang mit den Wanderchristen), was das Erröten verstärkte. Man spricht niemanden, in dessen Symptomkatalog Erröten vorkommt auf sein Erröten an. Aber M. hatte auch schon erzählt, wie ihre Tochter genussvoll einen Hasenköttel gegessen hatte und ihr schokoldaenfarbener Saft aus dem Mundwinkel rann. Ihr ist nichts heilig. Sie ist eine depressive Hebamme mit einem behinderten Kind.

Bin ich ein gefühlskaltes Monster, weil ich nicht mit den Menschen in der PLG (Problemlösungsgruppe, d.h. Gruppentherapie) mitleide? Dort werden schlimme Schicksalsschläge thematisiert, Tränen fließen, Taschentücher werden vollgeschneuzt. Und ich sitze dabei, distanziert – es schlägt mir nicht einmal auf die Laune. Allerdings sind heute meine Schwitz-Symptome, die zwei Tage verschwunden waren, wieder aufgetaucht, weil mich die Situation, das Erleiden zu erleiden, so gestresst hat. Ich kann mir nicht vorstellen, selbst so aus mir heraus zu platzen, vor einem Publikum, das nachher über meinen Ausbruch reden wird, das sich von mir runterziehen, die Laune verderben lässt. Nicht einmal in der Einzeltherapie habe ich bislang eine Träne vergossen.

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Sozialphobie ist die dritthäufigste psychische Störung nach Depression und Alkoholismus. Unser Protagonist leidet seit vielen Jahren an dieser Erkrankung. Nachdem ihn die Phobie beruflich und in viererlei Hinsicht auch privat ins Aus katapultiert hat, beschließt er, sich in Behandlung zu begeben. Und weil er es sich nicht leicht machen will und an radikale Methoden glaubt, begibt er sich für eine sechswöchige REHA-Maßnahme in eine Fachklinik für psychosomatische Erkrankungen. An eines hat er jedoch nicht gedacht: dass die Kliniksituation an sich, die ständige Konfrontation mit Patienten und Pflegepersonal, zunächst einmal Futter für seine Ängste sein wird. Anstatt sich in der Klinik aufgehoben zu fühlen, schlägt er dort zunächst ziemlich hart auf.

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