TAG 7
Visite. Meine Blutwerte – alles in Ordnung soweit. Zu wenig Protein, Blutzucker eben falls sehr niedrig. Und der erste Leberwert okay, der zweite leicht erhöht. Normal sind 0,58 – ich liege bei 0,6.
„Herr L., was halten Sie davon, wenn Sie für den Rest der Kur“ (sie sagen wirklich Kur) „auf Alkohol verzichten. Gibt es da ein Problem?“
„Nein, kein Problem“, lüge ich und denke an meinen aktuellen Lieblingsautor Augusten Burroughs und sein Entzugs-Buch „Dry“. Ich war so stolz darauf, dass ein Weizenbier alle 2 Tage für mich reicht und so soll ich jetzt sogar das aufgeben? Ja. Andernfalls fliege ich. Manches nachts hängen an den Zimmertüren hier Zettel – „bitte in der Medizinischen Zentrale melden“. Das bedeutet Alkoholtest. Demütigend, aber konsequent. Und vielleicht wirklich nicht das Schlechteste für mich. Fazit für mich – ich möchte keinen Besuch von Jürgen und Kai. Es wurmt mich schon, wenn ich Jürgen am Telefon rauchen höre – ihm beim Trinken zuzusehen, das mute ich mir nicht zu.
Team 7a ist noch weiter enthebelt. Da ich die meiste Zeit des Tages mit F. verbracht habe anstatt mit den Neuzugangsvampiren (jene deprimierten Büromäuse, die sich bemühen die Neuen schnellstmöglich für sich zu begeistern) den Neuen und ihren Lebensgeschichten zu lauschen, habe ich mich unbeliebt gemacht. Die korpulente P. hatte bei meiner Ankunft auch versucht, mich für sich zu begeistern. Sie hatte mich am ersten Tag in die Stadt eingeladen, aber, sauer, dass ich zu spät war (ein Chefarzt-Termin war verschoben worden und dauerte länger als geplant) ging sie beleidigt nicht mehr ans Telefon, als ich schließlich in der Stadt angelangt war. Do I care? Not really. Es wird Gründe geben, dass Menschen wie sie keine Freunde im wahren Leben haben. Und ich war schon mit 15 derjenige, der nur in die coolen Cliquen will. Deshalb war ich auch nicht mit ihr und den anderen (die mich nicht gefragt haben) Eis essen, sondern mit F. Federball spielen.
Der andere Aufmerksamkeitsvampir, der sich gestern noch eingeladen hatte, als ich mit F. in die Stadt wollte, scheint nun auch enttäuscht von mir abzulassen. Die 20jährige, die dramatisch auf sich aufmerksam macht, indem sie sich vor Weltschmerz gekrümmt in der Sporthalle auf den Boden legt, 10 Minuten später bei den Rauchern wieder lachen und scherzen kann, neidet mir die Zuneigung von F., die, wie ich, nicht sofort mit ihrer Lebens und Leidensgeschichte hausieren geht, sondern erst einmal schaut, wer ihr da gegenüber sitzt, bevor sie von sich erzählt. Vorerste Oberflächlichkeit ist in psychosomatischen Reha-Kliniken eine Tugend.
Eine Neue (schnell von P. geknackt) spricht mich kess an, als ich am Gemeinschaftsraum vorbeirausche. Ich erwähne, dass mein Problem die Sozialphobie ist.
„Das merkt man Dir aber gar nicht an.“
„Jahrzehntelanges Training.“
„Heutzutage sind ja viele sozialphobisch, das ist ja schon eine richtige Modeerscheinung.“
„Dann danke ich der BfA, dass sie so trendy war, mir die Reha für xy.000,- Euro zu finanzieren.“
Ich lass mir doch von so einer Tussi nicht mein Krankheitsbild schwächeln.
Ich höre soviel, ich sehe so viele Gesichter, ich weiß nicht mehr, wann ich was zu wem gesagt habe. Es ist nicht Alzheimer, sondern soziale Überforderung. Und es sind definitiv zu viele Menschen um mich, die mich ankotzen. Allen voran die Aufmerksamkeitsvampire, denen ich eine knallen möchte, weil sie ihr piefiges Leid inszenieren und Leuten denen es wirklich beschissen geht (und davon gibt es hier einige), die gute Laune, die sie beim Sitzvolleyball im Teamsport mit Anstrengung gewonnen haben, wieder versauen.
Hatte ich eigentlich erwähnt, dass ich heute, in diesem Moment, gerne Norbert N. töten würde? Das ist das Arschloch, dem ich verdanke, hier zu sein. Der hat mich mehrere Jahre meiner Kindheit lang gemobbt. Und es hatte sich über die Grenzen des Dorfes hinaus herumgesprochen, so dass die Kids am Gymnasium in S. prompt damit weitermachten. Einmal Opfer immer Opfer? Ich wäre entschieden gerne mal Täter.
Meine Phobie basiert, so hat es den Anschein, auf einer chronischen, erworbenen Alarmbereitschaft. Irgend etwas in mir rechnet ständig damit, auf einen Angriff vorbereitet sein zu müssen. In einem Roman, der in der dafür vorgesehenen Schublade liegt habe ich den N.-Charakter qualvoll entsorgt. Das hat die Wut offenbar nicht beseitigt, aber damals wusste ich auch nicht, dass ich wegen dem Schwein sechs Wochen lang ein Patient sein würde, der die Verantwortung über sich selbst in vetrauenswürdige aber dennoch fremde Hände abgeben muss. Sechs Woche, die, so stellt sich langsam heraus, erst der Anfang von vielen weiteren Wochen und Monaten sein werden. Noch nie zuvor musste ich mich in diesem Maße auf den Trost von Fremden verlassen.
„Herr L., was halten Sie davon, wenn Sie für den Rest der Kur“ (sie sagen wirklich Kur) „auf Alkohol verzichten. Gibt es da ein Problem?“
„Nein, kein Problem“, lüge ich und denke an meinen aktuellen Lieblingsautor Augusten Burroughs und sein Entzugs-Buch „Dry“. Ich war so stolz darauf, dass ein Weizenbier alle 2 Tage für mich reicht und so soll ich jetzt sogar das aufgeben? Ja. Andernfalls fliege ich. Manches nachts hängen an den Zimmertüren hier Zettel – „bitte in der Medizinischen Zentrale melden“. Das bedeutet Alkoholtest. Demütigend, aber konsequent. Und vielleicht wirklich nicht das Schlechteste für mich. Fazit für mich – ich möchte keinen Besuch von Jürgen und Kai. Es wurmt mich schon, wenn ich Jürgen am Telefon rauchen höre – ihm beim Trinken zuzusehen, das mute ich mir nicht zu.
Team 7a ist noch weiter enthebelt. Da ich die meiste Zeit des Tages mit F. verbracht habe anstatt mit den Neuzugangsvampiren (jene deprimierten Büromäuse, die sich bemühen die Neuen schnellstmöglich für sich zu begeistern) den Neuen und ihren Lebensgeschichten zu lauschen, habe ich mich unbeliebt gemacht. Die korpulente P. hatte bei meiner Ankunft auch versucht, mich für sich zu begeistern. Sie hatte mich am ersten Tag in die Stadt eingeladen, aber, sauer, dass ich zu spät war (ein Chefarzt-Termin war verschoben worden und dauerte länger als geplant) ging sie beleidigt nicht mehr ans Telefon, als ich schließlich in der Stadt angelangt war. Do I care? Not really. Es wird Gründe geben, dass Menschen wie sie keine Freunde im wahren Leben haben. Und ich war schon mit 15 derjenige, der nur in die coolen Cliquen will. Deshalb war ich auch nicht mit ihr und den anderen (die mich nicht gefragt haben) Eis essen, sondern mit F. Federball spielen.
Der andere Aufmerksamkeitsvampir, der sich gestern noch eingeladen hatte, als ich mit F. in die Stadt wollte, scheint nun auch enttäuscht von mir abzulassen. Die 20jährige, die dramatisch auf sich aufmerksam macht, indem sie sich vor Weltschmerz gekrümmt in der Sporthalle auf den Boden legt, 10 Minuten später bei den Rauchern wieder lachen und scherzen kann, neidet mir die Zuneigung von F., die, wie ich, nicht sofort mit ihrer Lebens und Leidensgeschichte hausieren geht, sondern erst einmal schaut, wer ihr da gegenüber sitzt, bevor sie von sich erzählt. Vorerste Oberflächlichkeit ist in psychosomatischen Reha-Kliniken eine Tugend.
Eine Neue (schnell von P. geknackt) spricht mich kess an, als ich am Gemeinschaftsraum vorbeirausche. Ich erwähne, dass mein Problem die Sozialphobie ist.
„Das merkt man Dir aber gar nicht an.“
„Jahrzehntelanges Training.“
„Heutzutage sind ja viele sozialphobisch, das ist ja schon eine richtige Modeerscheinung.“
„Dann danke ich der BfA, dass sie so trendy war, mir die Reha für xy.000,- Euro zu finanzieren.“
Ich lass mir doch von so einer Tussi nicht mein Krankheitsbild schwächeln.
Ich höre soviel, ich sehe so viele Gesichter, ich weiß nicht mehr, wann ich was zu wem gesagt habe. Es ist nicht Alzheimer, sondern soziale Überforderung. Und es sind definitiv zu viele Menschen um mich, die mich ankotzen. Allen voran die Aufmerksamkeitsvampire, denen ich eine knallen möchte, weil sie ihr piefiges Leid inszenieren und Leuten denen es wirklich beschissen geht (und davon gibt es hier einige), die gute Laune, die sie beim Sitzvolleyball im Teamsport mit Anstrengung gewonnen haben, wieder versauen.
Hatte ich eigentlich erwähnt, dass ich heute, in diesem Moment, gerne Norbert N. töten würde? Das ist das Arschloch, dem ich verdanke, hier zu sein. Der hat mich mehrere Jahre meiner Kindheit lang gemobbt. Und es hatte sich über die Grenzen des Dorfes hinaus herumgesprochen, so dass die Kids am Gymnasium in S. prompt damit weitermachten. Einmal Opfer immer Opfer? Ich wäre entschieden gerne mal Täter.
Meine Phobie basiert, so hat es den Anschein, auf einer chronischen, erworbenen Alarmbereitschaft. Irgend etwas in mir rechnet ständig damit, auf einen Angriff vorbereitet sein zu müssen. In einem Roman, der in der dafür vorgesehenen Schublade liegt habe ich den N.-Charakter qualvoll entsorgt. Das hat die Wut offenbar nicht beseitigt, aber damals wusste ich auch nicht, dass ich wegen dem Schwein sechs Wochen lang ein Patient sein würde, der die Verantwortung über sich selbst in vetrauenswürdige aber dennoch fremde Hände abgeben muss. Sechs Woche, die, so stellt sich langsam heraus, erst der Anfang von vielen weiteren Wochen und Monaten sein werden. Noch nie zuvor musste ich mich in diesem Maße auf den Trost von Fremden verlassen.
BatesMotel - 27. Okt, 09:10
Sehr geehrter Herr Protagonist
P.S. Ist die krankhafte Schüchternheit nicht auch irgendwo ein Segen, so zum Beispiel wenn man nur seine Ruhe haben will? (Das wäre wohl meine Diagnose).
es hört auf, ein segen zu sein, wenn man NUR noch seine ruhe haben möchte. und wenn selbst der gedanke, das telefon könnte klingeln und irgendjemand irgendetwas von einem wollen einen stresst...