TAG 8

Viertel vor neun Depri in der Aula. Wieder sehr informativ. Um 11.35 verpasse ich meine progressive Muskelentspannung, aber entschuldige mich bei Frau K.
„Herr L., Sie haben doch ein Buch geschrieben, haben Sie das zufällig dabei?“
„Leider nein, aber ich bekomme demnächst ein paar Exemplare geschickt.“
„Ach schade – morgen gehe ich in Urlaub. Aber wissen Sie, wir veranstalten manchmal Lesungen mit der Buchhandlung am Marktplatz. Hätten Sie nicht Lust?“
„Wissen Sie, wenn das Teil der Angstbewältigungstherapie ist, dann habe ich wohl keine Wahl, aber ehrlich gesagt, lieber nicht.“
„Na – vielleicht überlegen Sie es sich noch einmal – es wäre doch schön!“

Die Tage sind jetzt sehr strukturiert. Jeden Morgen um viertel nach acht Frühtreff, zweimal wöchentlich Teamsport, zwei "Problemlösungsgruppen", eine Einzeltherapie, dann diverse Verordnungen: Schulter/Nackengymnastik, 23 Mal Progressive Muskelrlaxation, Ergotherapie und die Vorlesungsveranstaltungen zum Thema Angst, Depression, Schermz. Essen, Rauchen, Schlafen. Wenn ich frei habe lese ich, höre Ipod oder schaue aufs Wasser, es sei denn jemand zwingt mir ein Gespräch auf. Vermutlich werde ich ein soziales Wesen, wenn ich den Kurs "Training sozialer Kompetenz" in meinen Stundenplan aufnehmen darf.

Statt zum Walking gehen wir klimabedingt mit dem Team 2 zur Feisneck und spielen (in memoriam Some like it hot) eine Art Geriatrie-Wasser-Volleyball. Das macht tatsächlich Spaß. Man erkennt die Patienten der Klinik an den türkisfarbenen Handtüchern und es kommen ein paar Kommentare von anderen Badegästen. Eine junge Polizistin aus unserem Team (Diagnose Mobbing) schlägt vor, wir sollten beim Rückweg auf Tourrette-Syndrom-Gruppe machen: „Fuckfuckfuck Bullshit Sau Sau Sau.“ Und natürlich unkontrolliert zucken. Später erfahre ich, dass sie den Spruch bei V. geklaut hat, das ist die, die Sozialphobie als Modekrankheit bezeichnet hat und der ich mittlerweile vergeben habe.
Überhaupt haben wir heute viel gelacht. I., die mich an die Mutter einer alten Freundin erinnert, und der es in den ersten Tagen genau so schlecht ging wie mir, ist angekommen und relaxt. Vielleicht liegt es an der „Genussgruppe“.
„Was? Morgen ist Patientenseminar? Nein. Da geh ich lieber wieder in die Genussgruppe.“
Sie will uns partout nicht verraten, was dort genossen wird.

Am Abend, nach intensivem Federball mit F., sitze ich in Team 7 (die Störfaktoren sind nicht anwesend) und wir lachen gemeinsam. Ein alter Lüstling spielt Gitarre und ein paar selbstverlorene Neuankömmlinge sitzen um ihn. In Ermangelung eines Lagerfeuers singt er „I´m your Venus – I´m your fire –pure desire!“

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42 DAYS

Sozialphobie ist die dritthäufigste psychische Störung nach Depression und Alkoholismus. Unser Protagonist leidet seit vielen Jahren an dieser Erkrankung. Nachdem ihn die Phobie beruflich und in viererlei Hinsicht auch privat ins Aus katapultiert hat, beschließt er, sich in Behandlung zu begeben. Und weil er es sich nicht leicht machen will und an radikale Methoden glaubt, begibt er sich für eine sechswöchige REHA-Maßnahme in eine Fachklinik für psychosomatische Erkrankungen. An eines hat er jedoch nicht gedacht: dass die Kliniksituation an sich, die ständige Konfrontation mit Patienten und Pflegepersonal, zunächst einmal Futter für seine Ängste sein wird. Anstatt sich in der Klinik aufgehoben zu fühlen, schlägt er dort zunächst ziemlich hart auf.

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Zuletzt aktualisiert: 18. Jul, 21:25

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