i am the concierge

Donnerstag, 3. November 2005

TAG 12

Ich könnte nicht sagen, dass ich es aktiv gehofft hätte, aber irgend etwas in mir hat sicherlich nicht damit gerechnet, es nie für möglich gehalten, dass ich noch ein einziges Mal in meinen Leben das Stück „Live is live“ der Band „Opus“ von vorne bis hinten würde hören, geschweige denn, meine Arme und Schultern dazu rhythmisch bewegen zu müssen. Heute so geschehen bei der Schulter-Nacken-Gymnastik. Aber das ist das geringere Übel. Meine schlechte Laune pubertiert und verwandelt sich in Kaltschnäuzigkeit. Ich formuliere zunehmend ehrlich. Unverfroren. Sage, dass ich das dumme Gelaber in den Pausen (und teilweise in den Gruppentherapien und Seminaren) nicht mehr ertragen kann. Prollhausen deluxe und GlamourDick mittendrin. Ich werde selbst zum Proll, zum Mobber, zum Täter. Denke immer häufiger „Leck mich am Arsch“ ohne jede sexuelle Konnotation. (Und: JA! Sex fehlt mir.)
Anstelle von Alkohol nehme ich Zucker in Form von Hanutas zu mir. Doch liegt meine üble Laune nur zum Teil am Blutzucker-Abrutschen, mehr an dem Hass, den ich auf meine Kinderzeit-Mobber entdeckt habe und nun hege und pflege und auf meine Mitpatienten projiziere. I don´t suffer fools from the hill gladly. They get on my nerves and I don´t let them stay there. Meine Haltung ist arrogant und elitär. Ich nehme mich und meine Bedürfnisse wichtig. Eines dieser Bedürfnisse ist Privatsphäre. Die habe ich nur auf dem Zimmer. Mittlerweile rauche ich heimlich abends auf dem Balkon, weil bei mir Nikotinzufuhr nicht zwingend mit dem Austausch von Platitüden einhergeht. Ich will mich nicht zutexten lassen, sondern von den 14 Stunden, die ich hier weitestgehend im Wachzustand zubringe, zumindest die letzten beiden in splendid isolation verbringen: ich, das Telefon, meine Cola Light Lemon und eine Marlboro. (Cola Light Lemon immer noch ausverkauft...)

Habe es mir mit F. verscherzt, weil ich M. ebenfalls gefragt habe, ob sie mit an die Feisneck kommt. Nachdem F. sich vor ein paar Tagen darüber lustig gemacht hatte, dass unsere Zweier-Aktivitäten Neid und Eifersucht auslösen, ist sie jetzt selbst eifersüchtig geworden. Schade.
Sie hat sich am Badestrand schlafend gestellt und so etwas sehr Schönes verpasst. Beinahe hätte ich jemanden mit einem nicht-türkisen Badelaken (also einen Nicht-Insassen) gefragt, ob er dasselbe sieht wie ich, denn ich hatte Gelegenheit, an meinem Verstand zu zweifeln: Ein Klingeling machte mich aufmerksam auf einen Wanderer mit kreuzförmigem, blütengeschmückten Wanderstab, der eine Kette mit Holzscheibenanhänger um den Hals trug. Ihm folgten ungefähr zwei Dutzend Wanderer, welche der gleiche Schmuck zierte. Sie näherten sich vom Waldweg und marschierten über den Strand zum Waldrand empor, lächelten freundlich, entledigten sich ihrer Kleider und gingen kollektiv baden. Es scheinen Westler gewesen zu sein, a) wegen des christlichen Wanderstabes, b) weil sie Badezeug trugen (Ossis baden nackt). Das war auch ganz gut so, denn die Jüngsten Wanderer mochten so um die Mitte 50 gewesen sein.
Nachher hat M. es sich mit mir verscherzt, weil sie mich beim Abendessen vor Publikum auf ein öffentliches Erröten ansprach (dies stand nicht im Zusammenhang mit den Wanderchristen), was das Erröten verstärkte. Man spricht niemanden, in dessen Symptomkatalog Erröten vorkommt auf sein Erröten an. Aber M. hatte auch schon erzählt, wie ihre Tochter genussvoll einen Hasenköttel gegessen hatte und ihr schokoldaenfarbener Saft aus dem Mundwinkel rann. Ihr ist nichts heilig. Sie ist eine depressive Hebamme mit einem behinderten Kind.

Bin ich ein gefühlskaltes Monster, weil ich nicht mit den Menschen in der PLG (Problemlösungsgruppe, d.h. Gruppentherapie) mitleide? Dort werden schlimme Schicksalsschläge thematisiert, Tränen fließen, Taschentücher werden vollgeschneuzt. Und ich sitze dabei, distanziert – es schlägt mir nicht einmal auf die Laune. Allerdings sind heute meine Schwitz-Symptome, die zwei Tage verschwunden waren, wieder aufgetaucht, weil mich die Situation, das Erleiden zu erleiden, so gestresst hat. Ich kann mir nicht vorstellen, selbst so aus mir heraus zu platzen, vor einem Publikum, das nachher über meinen Ausbruch reden wird, das sich von mir runterziehen, die Laune verderben lässt. Nicht einmal in der Einzeltherapie habe ich bislang eine Träne vergossen.

Mittwoch, 2. November 2005

TAG 11

Die totale soziale Überforderung. Alle hängen mir zum Hals raus. Ich vermisse meine Wohnung. Ich denke an jede einzelne Pflanze auf meinem Balkon.

Kino: „War of the worlds“. Da ich ungefähr drei Jahre nicht im Kino war, hatte ich vergessen, dass die Filme, anders als auf DVD, auf DEUTSCH laufen. Egal. Hauptsache zwei Stunden raus aus der Klinik.

Dienstag, 1. November 2005

TAG 10

Ruhe. Alleinsein. Wally Lamb´s „She´s come undone“ zu Ende gelesen, Harry Potter 6 in der Post. Heut Vormittag hat mich M. zu einer Fahrradtour um den Tiefwarener See überredet – sehr nett, sehr idyllisch. Den Rest des Tages verbringe ich mit Lesen bis ich endlich ein Internetcafé in einem Jugendzentrum entdeckt habe, in dem ich unproblematisch Zugriff auch auf Seiten mit pornografischem Inhalt habe – Gayromeo. Danach will ich einfach nur einmal ein alternatives Abendessen und hole mir am Hafen einen vegetarischen Döner. Ich sitze am Springbrunnen und sehe Patienten vorbeilaufen und freue mich, dass sie mich nicht sehen. Dann geht C. den Weg entlang – auch ein Patient, ein sympathischer, angenehmer Mensch. Er setzt sich zu mir und wir quatschen – kommen ins Lästern über die zum Teil unzumutbaren Frauen, die neidisch über die (in ihren Augen) viel zu wenig vorhandenen Männer und deren ihnen zu erweisende Gunst wachen. Als Hetero (noch dazu nicht unattraktiv) hat er es schwerer als ich. Ich muss mich weder dem Trupp der traurigen Alphamännchen der Team 2-Hetenmänner anschließen, noch als Objekt der Begierde vor den Damen retten. (Es ist aber sicherlich eine Frage der Zeit bis eine Hetera meint, mich bekehren zu müssen, was sie noch tiefer in ihre Depression stürzen wird, aus der sie nicht mehr aufwachen konnte, seit sie ihr Freund/Verlobter/Ehemann mit einer Jüngeren/Hübscheren/Hässlicheren/Dümmeren betrog. Same old same old.)

Die Neue von neulich hat sich für ihren abwertenden Spruch betreffs der Modekrankheit Sozialphobie entschuldigt. Ich muss langsam aufpassen, wem ich was sage, denn garantiert haben ihr die Buschtrommeln meine Genervtheit betreffs ihrer Bemerkung gemeldet. Genauso wie sicherlich auf dem Hügel schon bekannt war, dass der Hetero und der Schwule am Hafen sitzen und Kaffee trinken. Was für C.s Ruf ganz andere Konsequenzen haben könnte als für meinen.

Manchmal macht Sozialphobie Sinn.

Im Hafen wird wieder Livemusik gemacht. Wenn ich heute noch einmal „Über sieben Brücken musst Du geh´n“ höre, bastele ich mir einen Molotov-Cocktail. (Merke: Vorschlag an die Ergotherapie.)

Montag, 31. Oktober 2005

TAG 9

Habe gestern meine Freunde informiert, dass ich während meiner Zeit auf dem Hügel keinen Besuch möchte. Beim Telefonieren bemerkt, dass ich sie nicht um ihr Leben in Freiheit beneide. Und jetzt vermisse ich sie, was das Zeug hält. Jürgen erzählt, meine Wohnung hat die attraktiven Spanier gut überstanden und heute zieht schon der neue Untermieter ein. 5 Wochen liegen noch vor mir, in denen ich meine Freunde nicht von hier abreisen sehen möchte. Das nicht-abreisen-sehen ist mir wichtiger als das sie-sehen. Auch ganz schön bescheuert, oder? Was würde meine Therapeutin sagen?
„Vermeidung, Herr L.“

Die Klientel im Speisesaal ist wie ausgetauscht. Alte Gesichter sind fort, neue gekommen. Die alten erkennt man nicht zuletzt an ihrer satten Sonnenbräune. Die neuen senken den Blick und grüßen nicht.

Ich war mit F. auf dem See und wir blicken beide in eine veränderte Zukunft, von der wir nicht wissen, wie sie aussehen wird. Wir haben Vorsätze. Wir wollen aus Genuss trinken und mindestens drei Abende in der Woche clean bleiben. Epikuräisch. Ich will meinen alten Lebensstil nicht abstreifen wie eine Wurstpelle. Es gibt einiges, was ich gerne verabschiede, aber wenn ich mich häute und häute und häute, stehe ich irgendwann als Skelett da. Und bis dahin sollten noch ein paar Jahrzehnte Leben lebbar sein.
Meine Laune war auch schon besser.

Sind ja nur noch 5 Wochen. Ha ha.

Zu allem Überfluss bekomme ich einen Anruf von D. Die Psychologie-Skeptikerin möchte wissen ob es mir besser geht.
„Ja – es geht besser.“
„Und hast Du noch diese Schweißausbrüche?“
„Ja. Den ganzen Tag.“
„Na dann kann´s ja so toll nicht sein.“
Ich überlege, ob ich mein Telefon wieder abmelde.

Vielleicht bin ich auch nur so übellaunig, weil heute zwei Veranstaltungen ausgefallen sind und ich mittlerweile ein Psychoseminar-Junkie bin. Außerdem bin ich tendentiell horny und im Anstalts-Internet-PC ist die Gayromeo-Seite aus Jugendschutzgründen gesperrt. Ich brauch ein Internet-Café. Aber ob hier auf dem Land an schwulen Sex zu kommen ist - ich zweifele daran.

Draußen ist es dunkel, liege auf der mäßig bequemen Draht-Liege, ich hab den Kopfhörer auf, damit ich mit niemandem reden muss. Schaue in den Himmel und höre Echolot, Wir sind Helden. Denke an Berlin, Flughafensee, Sommer 1998. Sehe meinen damals dünnen, weißen Körper in schwarzem klaren Wasser, gespiegelt am Himmel. Der Abendstern leuchtet. Erinnere eine Umarmung im Wasser, wir zwei, ganz allein. Erinnere seinen schönen Schwanz, sein Lachen, die klatschnassen halblangen Haare. Darf ich das behalten – ich hab´s gefunden. Matthias M.-Flashback, warum gerade jetzt? Weil irgendein Fragebogen irgendeine gescheiterte Beziehung nachfragte und es ist wohl keine kläglicher und schlimmer gescheitert als die mit ihm. Vielleicht auch ein Zeichen für eine große Liebe? Er hat sich mir entwöhnt, weil im gemeinsamen Marocco-Urlaub alle meine Ängste mich lähmten und ich ihm, so unselbständig, unlieb wurde.
„Sie sind dumm!“
„Warum?“
„Weil Sie erst jetzt zu uns kommen.“
Wie wahr.
Macht Dich das wütend genug?

Freitag, 28. Oktober 2005

TAG 8

Viertel vor neun Depri in der Aula. Wieder sehr informativ. Um 11.35 verpasse ich meine progressive Muskelentspannung, aber entschuldige mich bei Frau K.
„Herr L., Sie haben doch ein Buch geschrieben, haben Sie das zufällig dabei?“
„Leider nein, aber ich bekomme demnächst ein paar Exemplare geschickt.“
„Ach schade – morgen gehe ich in Urlaub. Aber wissen Sie, wir veranstalten manchmal Lesungen mit der Buchhandlung am Marktplatz. Hätten Sie nicht Lust?“
„Wissen Sie, wenn das Teil der Angstbewältigungstherapie ist, dann habe ich wohl keine Wahl, aber ehrlich gesagt, lieber nicht.“
„Na – vielleicht überlegen Sie es sich noch einmal – es wäre doch schön!“

Die Tage sind jetzt sehr strukturiert. Jeden Morgen um viertel nach acht Frühtreff, zweimal wöchentlich Teamsport, zwei "Problemlösungsgruppen", eine Einzeltherapie, dann diverse Verordnungen: Schulter/Nackengymnastik, 23 Mal Progressive Muskelrlaxation, Ergotherapie und die Vorlesungsveranstaltungen zum Thema Angst, Depression, Schermz. Essen, Rauchen, Schlafen. Wenn ich frei habe lese ich, höre Ipod oder schaue aufs Wasser, es sei denn jemand zwingt mir ein Gespräch auf. Vermutlich werde ich ein soziales Wesen, wenn ich den Kurs "Training sozialer Kompetenz" in meinen Stundenplan aufnehmen darf.

Statt zum Walking gehen wir klimabedingt mit dem Team 2 zur Feisneck und spielen (in memoriam Some like it hot) eine Art Geriatrie-Wasser-Volleyball. Das macht tatsächlich Spaß. Man erkennt die Patienten der Klinik an den türkisfarbenen Handtüchern und es kommen ein paar Kommentare von anderen Badegästen. Eine junge Polizistin aus unserem Team (Diagnose Mobbing) schlägt vor, wir sollten beim Rückweg auf Tourrette-Syndrom-Gruppe machen: „Fuckfuckfuck Bullshit Sau Sau Sau.“ Und natürlich unkontrolliert zucken. Später erfahre ich, dass sie den Spruch bei V. geklaut hat, das ist die, die Sozialphobie als Modekrankheit bezeichnet hat und der ich mittlerweile vergeben habe.
Überhaupt haben wir heute viel gelacht. I., die mich an die Mutter einer alten Freundin erinnert, und der es in den ersten Tagen genau so schlecht ging wie mir, ist angekommen und relaxt. Vielleicht liegt es an der „Genussgruppe“.
„Was? Morgen ist Patientenseminar? Nein. Da geh ich lieber wieder in die Genussgruppe.“
Sie will uns partout nicht verraten, was dort genossen wird.

Am Abend, nach intensivem Federball mit F., sitze ich in Team 7 (die Störfaktoren sind nicht anwesend) und wir lachen gemeinsam. Ein alter Lüstling spielt Gitarre und ein paar selbstverlorene Neuankömmlinge sitzen um ihn. In Ermangelung eines Lagerfeuers singt er „I´m your Venus – I´m your fire –pure desire!“

Donnerstag, 27. Oktober 2005

TAG 7

Visite. Meine Blutwerte – alles in Ordnung soweit. Zu wenig Protein, Blutzucker eben falls sehr niedrig. Und der erste Leberwert okay, der zweite leicht erhöht. Normal sind 0,58 – ich liege bei 0,6.
„Herr L., was halten Sie davon, wenn Sie für den Rest der Kur“ (sie sagen wirklich Kur) „auf Alkohol verzichten. Gibt es da ein Problem?“
„Nein, kein Problem“, lüge ich und denke an meinen aktuellen Lieblingsautor Augusten Burroughs und sein Entzugs-Buch „Dry“. Ich war so stolz darauf, dass ein Weizenbier alle 2 Tage für mich reicht und so soll ich jetzt sogar das aufgeben? Ja. Andernfalls fliege ich. Manches nachts hängen an den Zimmertüren hier Zettel – „bitte in der Medizinischen Zentrale melden“. Das bedeutet Alkoholtest. Demütigend, aber konsequent. Und vielleicht wirklich nicht das Schlechteste für mich. Fazit für mich – ich möchte keinen Besuch von Jürgen und Kai. Es wurmt mich schon, wenn ich Jürgen am Telefon rauchen höre – ihm beim Trinken zuzusehen, das mute ich mir nicht zu.

Team 7a ist noch weiter enthebelt. Da ich die meiste Zeit des Tages mit F. verbracht habe anstatt mit den Neuzugangsvampiren (jene deprimierten Büromäuse, die sich bemühen die Neuen schnellstmöglich für sich zu begeistern) den Neuen und ihren Lebensgeschichten zu lauschen, habe ich mich unbeliebt gemacht. Die korpulente P. hatte bei meiner Ankunft auch versucht, mich für sich zu begeistern. Sie hatte mich am ersten Tag in die Stadt eingeladen, aber, sauer, dass ich zu spät war (ein Chefarzt-Termin war verschoben worden und dauerte länger als geplant) ging sie beleidigt nicht mehr ans Telefon, als ich schließlich in der Stadt angelangt war. Do I care? Not really. Es wird Gründe geben, dass Menschen wie sie keine Freunde im wahren Leben haben. Und ich war schon mit 15 derjenige, der nur in die coolen Cliquen will. Deshalb war ich auch nicht mit ihr und den anderen (die mich nicht gefragt haben) Eis essen, sondern mit F. Federball spielen.
Der andere Aufmerksamkeitsvampir, der sich gestern noch eingeladen hatte, als ich mit F. in die Stadt wollte, scheint nun auch enttäuscht von mir abzulassen. Die 20jährige, die dramatisch auf sich aufmerksam macht, indem sie sich vor Weltschmerz gekrümmt in der Sporthalle auf den Boden legt, 10 Minuten später bei den Rauchern wieder lachen und scherzen kann, neidet mir die Zuneigung von F., die, wie ich, nicht sofort mit ihrer Lebens und Leidensgeschichte hausieren geht, sondern erst einmal schaut, wer ihr da gegenüber sitzt, bevor sie von sich erzählt. Vorerste Oberflächlichkeit ist in psychosomatischen Reha-Kliniken eine Tugend.
Eine Neue (schnell von P. geknackt) spricht mich kess an, als ich am Gemeinschaftsraum vorbeirausche. Ich erwähne, dass mein Problem die Sozialphobie ist.
„Das merkt man Dir aber gar nicht an.“
„Jahrzehntelanges Training.“
„Heutzutage sind ja viele sozialphobisch, das ist ja schon eine richtige Modeerscheinung.“
„Dann danke ich der BfA, dass sie so trendy war, mir die Reha für xy.000,- Euro zu finanzieren.“
Ich lass mir doch von so einer Tussi nicht mein Krankheitsbild schwächeln.

Ich höre soviel, ich sehe so viele Gesichter, ich weiß nicht mehr, wann ich was zu wem gesagt habe. Es ist nicht Alzheimer, sondern soziale Überforderung. Und es sind definitiv zu viele Menschen um mich, die mich ankotzen. Allen voran die Aufmerksamkeitsvampire, denen ich eine knallen möchte, weil sie ihr piefiges Leid inszenieren und Leuten denen es wirklich beschissen geht (und davon gibt es hier einige), die gute Laune, die sie beim Sitzvolleyball im Teamsport mit Anstrengung gewonnen haben, wieder versauen.

Hatte ich eigentlich erwähnt, dass ich heute, in diesem Moment, gerne Norbert N. töten würde? Das ist das Arschloch, dem ich verdanke, hier zu sein. Der hat mich mehrere Jahre meiner Kindheit lang gemobbt. Und es hatte sich über die Grenzen des Dorfes hinaus herumgesprochen, so dass die Kids am Gymnasium in S. prompt damit weitermachten. Einmal Opfer immer Opfer? Ich wäre entschieden gerne mal Täter.
Meine Phobie basiert, so hat es den Anschein, auf einer chronischen, erworbenen Alarmbereitschaft. Irgend etwas in mir rechnet ständig damit, auf einen Angriff vorbereitet sein zu müssen. In einem Roman, der in der dafür vorgesehenen Schublade liegt habe ich den N.-Charakter qualvoll entsorgt. Das hat die Wut offenbar nicht beseitigt, aber damals wusste ich auch nicht, dass ich wegen dem Schwein sechs Wochen lang ein Patient sein würde, der die Verantwortung über sich selbst in vetrauenswürdige aber dennoch fremde Hände abgeben muss. Sechs Woche, die, so stellt sich langsam heraus, erst der Anfang von vielen weiteren Wochen und Monaten sein werden. Noch nie zuvor musste ich mich in diesem Maße auf den Trost von Fremden verlassen.

Mittwoch, 26. Oktober 2005

TAG 6

Ich gerate zwischen die Sympathiefronten. Ich mag einige Patienten, die sich untereinander nicht mögen. Egal? Wird sich zeigen. Wir haben äußerst heitere Momente, sei es bei „Depri“ in der Aula oder bei der Progressiven Muskelentspannung nach Jacobsen (der seine Übungen beim Yoga geklaut hat, schamlos – kenne ich alles aus der Kundalini-Entspannung.) Liegt es am Jarsin? Nie hat mich Johanniskraut gleichmütiger gemacht. Vielleicht liegt es auch an der gesunden regelmäßigen Ernährung, der Zeit, die ich auf der Feisneck verbringe, wo ich erstmals in meinem Leben FKK betreibe, freilich unter Ausschluss der Öffentlichkeit, denn mit meinem Boot bin ich bislang nur allein unterwegs.
Die wirklich spannenden Gruppengespräche entstehen abends, beim Rauchen. Team 7 ist enthebelt worden: Wegen eines Psycho-Patienten, der alle nervt (u.a. auch seine Ex, die er seit 5 Jahren stalkt), wurde Team 7a gegründet. Wir sitzen nicht in den Raucherhäuschen, sondern auf der „Heulbank“ – die ist dem Haus ab- und dem See zugewandt, den man von dort leider nicht sieht. 7a meidet die Prolls, Psychos und Kotzbrocken. Wir alle hier kennen und erleben den nicht feinen Grad zwischen Psychosomatik und Psychiatrie. Es ist wie der Unterschied zwischen freiem Vollzug und Einzelhaft.

Dienstag, 25. Oktober 2005

TAG 5

Geht langsamer los als befürchtet. Mein Stundenplan ist noch nicht vollgeknallt mit Seminaren, Gesprächen, Sport und Ergotherapie. Heute habe ich nur Schulter/Nackengymnastik und die gefürchtete Gruppentherapie. Alle hassen PLG, was für Problemlösungsgespräch steht. Statt eines Talking-sticks gibt es „Rudi“. Rudi ist ein Hirsch aus Holz. Wer Rudi hat, redet. Muppet Show, irgendwie.
Ich unterschreibe eine Schweigepflichtsvereinbarung – also halte ich mich hier bedeckt über die Patienten und ihre Äußerungen, aber ich darf sicher sagen, dass viele Patienten, die vor dem PLG einen Horror hatten, ihn bestätigt bekommen haben. Die Themenauswahl treffen wir. Eine Patientin hat ein für sie akutes Thema ausgesucht und schildert ihre Problematik so eindringlich, dass bei einigen die Schauer laufen, bei anderen die Scheuklappen zuploppen oder bei wieder anderen die Schuppen von den Augen fallen.
Ich stelle beruhigt fest, dass ich mir das Leid dieser Patientin nicht als Kostüm anziehe. Ich fühle ihr nach, aber ich habe kein Mitleid. Ich diskutiere mit, aber werte nicht. Ich bete innerlich, nie selbst in die Situation zu geraten, in der sie sich gerade befindet: auf einer Bühne, auf der sie uns ihr Leid klagt, und zwar sehr anschaulich.

Beim Abendbrot spricht mich eine Frau, an, die ich noch nicht kennen gelernt habe. Sie sagt mir, dass sie eine Literaturzeitschrift dabei hat – bei Interesse bringt sie sie mir morgen mit. Es hat sich herumgesprochen, dass der Typ mit der protzigen D&G-Tasche Schriftsteller ist.

Heute feiert L. Abschied. Sie war mir in den vergangenen Tagen eine echte Stütze und wir haben quality time miteinander verbracht. Ich werde sie vermissen. Dienstag, Mittwoch und Donnerstag kommen die Neuen.

D., der attraktive Patient mit der modischen Kurzhaarfrisur und den langärmeligen Shirts, ist Hetero.

Montag, 24. Oktober 2005

TAG 4, SONNTAG

Anstelle von Gruppenerlebnissen heute ein Tag, den ich ziemlich allein verbringe. Erst im Boot auf der Feisneck (einem kleinen See neben der Müritz), dann im Hafen (mal schauen ob der Lockenkopf wieder im Schatten vor seinem Boot hockt. Shit. Tut er nicht.) Zum Essen zurück, Lesen, schreiben, Gespräche vermeiden. Am Hafen ist es mir ein paar Minuten gelungen, mich wie ein Tourist zu fühlen und zu verdrängen, dass ich wieder in die Klinik muss. Wo mir meine Entscheidungsfreiheiten genommen sind. Was ich esse, trinke, wie lange ich schlafe, mit wem ich welche Therapie nehme – alles in fremden Händen. Das mir, Kontrollfreak... aber die Kontrolle die ich in eigener Verantwortung über mich und mein Leben ausgeübt habe, hat mich hierher gebracht (und immer wieder die selbe Frage: warum nicht schon viel früher?)

Sympathien und Antipathien haben sich jetzt ganz klar herauskristallisiert.

Jeder Tag, auch wenn er schön war, diese emotionalen Einbrüche. Zweifel am Durchhaltevermögen, Angst vor dem nächsten Tag, Die Frage, wer wirklich „therapiert“ (geheilt ?) ist, wenn er hier rauskommt.

Freitag, 21. Oktober 2005

TAG 3

Keine Aktionen vorm Frühstück! Ausschlafen bis 7.00 Uhr! Meeting im „Team7“ – dem Rauchercamp. Danach Einweisung in die Ergo-Räume. Man zeigt uns die Bastelwerkstätten, die Sporträume, die Diätküche. Als wir den Schwimmraum durch die getrennt geschlechtlichen Umkleideräume betreten zähle ich 5 Männer und 25 Frauen. Sind Männer robuster? Oder werden sie früher sterben, weil sie so ungern zum Arzt gehen, und schon gar nicht wegen einem Macke? Gestern erzählte mir ein Raucher vom Team 7, dass ein Großteil der Patienten Polizist oder Kripobeamter sei und von einer SEK-Beamtin, die im Einsatz seinen besten Freund verlor, und die nach drei Verlängerungen bereits 11 Wochen hier sei. Ich schickte ein Stoßgebet zum Psychosomatikerhimmel „Bitte, bitte, lass mich therapierbar sein!!“
Den Männern geht schnell der Gesprächsstoff aus, und sie scheinen nicht zu wissen, was sie mit sich anfangen sollen. Einige von ihnen sitzen stumm im „Gemeinschaftsraum“, der ein Flur ist. Wenn ein Fernseher läuft, kann man sicher sein, dass ein heterosexueller Mann davor sitzt. Außer, wenn „Bianca“ läuft. Die Männer lachen im Gegensatz zu den Frauen nicht. Selbst die Frauen, die wegen Depressionen hier sind, hört man ein paar Mal täglich lachen. Wir, vom Hotel zur lockeren Schraube (so nennt man uns in der Stadt), haben Galgenhumor. Wir haben uns aber auch nicht umsonst auf den Nesselberg gesetzt.

Weil der Tag sich nicht entscheiden kann, ob er warm und hell oder kalt und grau werden soll, muss ich meinen Plan aufgeben, mit dem Schlauchboot auf den See zu gehen. Ich entscheide mich für den öffentlichen Strand. Die erste Stunde bin ich sehr unsicher – es sind noch keine Menschenmassen da, aber trotzdem fühle ich mich bedrängt, beengt, beobachtet. Wenn ich nicht gerade in der Badehose hier liegen würde, könnte es die Berliner U-Bahn sein. Irgendwann lässt das Gefühl der Beobachtung etwas nach und ich wage es, ins Wasser zu gehen. Es ist herrlich. Frisch, nicht zu kalt, nicht zu warm. Langsam kann ich mir vorstellen, es hier auszuhalten. Wasser ist mein Element und die Verbundenheit ist so stark, dass ich einiges überwinde, um mich darin zu bewegen.
Danach fühle ich mich sexy. In der Klinik, unter der Dusche, verhelfe ich mir zu einem Orgasmus.

In der Raucherecke treffe ich eine junge Frau, die gerade ein Federballspiel gekauft hat. In der Sporthalle probieren wir es aus. Ausgepowert und sonnenverbrannt beschließe ich, soviel Zeit wie möglich mit Schwimmen, sonnen und Federballspielen zu verbringen.
Der attraktive Mann von Tag 1 heißt D. und hält sich sehr im Hintergrund.

User Status

Du bist nicht angemeldet.

42 DAYS

Sozialphobie ist die dritthäufigste psychische Störung nach Depression und Alkoholismus. Unser Protagonist leidet seit vielen Jahren an dieser Erkrankung. Nachdem ihn die Phobie beruflich und in viererlei Hinsicht auch privat ins Aus katapultiert hat, beschließt er, sich in Behandlung zu begeben. Und weil er es sich nicht leicht machen will und an radikale Methoden glaubt, begibt er sich für eine sechswöchige REHA-Maßnahme in eine Fachklinik für psychosomatische Erkrankungen. An eines hat er jedoch nicht gedacht: dass die Kliniksituation an sich, die ständige Konfrontation mit Patienten und Pflegepersonal, zunächst einmal Futter für seine Ängste sein wird. Anstatt sich in der Klinik aufgehoben zu fühlen, schlägt er dort zunächst ziemlich hart auf.

Aktuelle Beiträge

Tief berührt, hat mich...
Tief berührt, hat mich die Geschichte. Ich habe mir...
lore.berlin - 18. Jul, 21:25
dankeschön!
dankeschön!
glamourdick - 30. Jun, 12:24
Jetzt habe ich die ganze...
in einem "Rutsch" gelesen. Was Sie als großes Kompliment...
BlogBar - 25. Jun, 12:14
Habe das alles so gern...
Habe das alles so gern gelesen. Danke dafür. Und: alles...
nah - 21. Dez, 20:00
ALLES GUTE
winomat - 21. Dez, 11:08

Links

Free Text (2)

Suche

 

Status

Online seit 7136 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 18. Jul, 21:25

Credits


barred + bolted
i am the concierge
impressed
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren
development